Friede Christi und Vertrauen im digitalen Raum
In unserem Mittagsgebet beten wir:
Herr Jesus Christus. Du richtest dein Reich auf mitten in unserer Welt.
Du bist der Friede, der die Welt durchdringt und verwandelt.
Wir bitten dich: Schaffe dir Raum in uns und durch uns.
Von Schwester Katharina Wiefel-Jenner am 31. August 2021
Die Welt, für die wir Christus bitten, sie zu durchdringen und zu verwandeln, ist größer und weiter geworden. Seit zwei Jahrzehnten bewegen wir uns zunehmend in virtuellen Räumen, die uns die digitale Revolution geöffnet hat. Wir „gehen ins“ Internet und informieren uns. Wir streamen Musik. Wir lesen Geistliches und Weltliches in Blogs. Wir twittern und zeigen uns in den sozialen Medien.
Auch als Schwesternschaft sind wir beteiligt an dieser Erweiterung der alltäglichen Welt. Wir haben eine eigene Internetpräsenz. Wir schreiben einander Emails. Wir schicken uns Nachrichten und Bilder mit Hilfe von digitalen Messenger-Diensten. In den Monaten der erzwungenen physischen Distanz haben wir entdeckt, dass wir in Videokonferenzen zusammenkommen und hier sogar gemeinsam beten können. Räumlich voneinander entfernt, beten wir gemeinsam und verbunden durch digitale Technik. Zugleich haftet dem Sprechen, Hören, Erleben und Beten in diesen digitalen Räumen der Makel des Uneigentlichen an. In unbedachten Momenten beschleicht die eine oder andere die Sehnsucht danach, zurückkehren zu können in eine Welt, die nicht von diesem Verdacht der Uneigentlichkeit gezeichnet ist. Als ob es nur ein Notbehelf sei, virtuell zusammen zu kommen, und der digitale Austausch nur ein Zwischenstopp auf dem Weg zurück in die eigentliche Weise des Lebens und Betens. Diese Rückkehr wird es nicht geben. Das, was einmal so vertraut schien, ist vergangen. Die virtuelle Welt wird auch in Zukunft zu unserem „echten“ Leben gehören. Sie ist ein Teil unserer Welt und ist so zugleich ein Teil der Welt, in der Christus sein Reich errichtet. Der Friede, der die Welt durchdringt und verwandelt, macht nicht Halt vor den digitalen Welten. Oder anders gesagt: die virtuelle Welt braucht ebenso den Frieden Christi. Das mag befremdlich klingen. Würden wir aber die Bitte, dass sich Christus in uns und durch uns Raum verschaffen möge, nur auf die Welt ohne digitale Vernetzung und virtuelle Begegnungen beziehen, würden wir Christus aus einem wichtigen Bereich der Welt ausschließen wollen. Die digitale Welt und unsere Begegnungen in ihr sind eng verbunden mit unseren Begegnungen und unseren Beziehungen, die wir ohne digitale Hilfe gestalten. Unsere Bitte, dass sich der Friede Christi durch uns Raum schaffe, muss so auch diese Bereiche einschließen, in denen wir uns digital bewegen, sprechen, kommunizieren und handeln.
Den Zusammenhang beider Bereiche spüren wir bei positiven Erlebnissen. Aber er lässt sich durch die negativen Erfahrungen deutlicher erkennen. Die Geschwindigkeit der Datenübertragung und die Interaktivität, die kennzeichnend für die Lebensäußerungen im Internet sind, prägen den Kommunikationsstil im digitalen Raum und wirken auf das reale Leben. Die mögliche Geschwindigkeit für eine Mitteilung verleitet dazu, nicht erst die Sonne über dem Zorn untergehen zu lassen (Eph 4,26). Eine Email im „bcc“ an Mitleserinnen zu schicken, ohne es die eigentliche Empfängerin merken zu lassen, ist wie ein heimliches Schießen auf den Frommen mit giftigen Worten (Psalm 64,49). Im Minutentakt verbreitet sich das im Digitalen Geschriebene und Gesagte. Es zieht seine Kreise, dringt aus dem mit Füßen nicht betretbaren Raum hinaus in die Welt, durch die wir gehen und die wir mit unseren Händen gestalten. Die bösen Worte dort schlagen hier zu und verletzen die Seele und auch den Leib. Der digitale Raum ist kein ausgesonderter Bezirk. Dies ist keine Frage der Technik, sondern der Haltung. Die Haltung, mit der wir uns in der digitalen Welt bewegen, in der wir miteinander kommunizieren und die uns auszeichnet, ist entscheidend. Sie wirkt sowohl hier wie da. Darum sind wir auch für den digitalen Bereich unseres Lebens darauf verwiesen, uns dem Frieden Christi zur Verfügung zu stellen. Mit unserer Friedensbitte halten wir uns, unsere Haltung und unser Verhalten Christus hin, damit er es täglich verwandelt. In unserer Regel heißt es:
„Es geht darum, immer wieder neu unsere Theorien und unsere eigenen Erkenntnisse, was der Friede Christi ist, wandeln zu lassen in solches Offensein für die Realität dieses Friedens. Das heißt, den auferstandenen Christus, der uns zuspricht: „Friede ist mit euch!“, in die Mitte unserer Gemeinschaft treten lassen und uns Seinem Frieden zur Verfügung stellen mit unserm ganzen Leben, damit er wirken kann in uns und damit in der Welt.“
Unsere Schwestern vor uns haben bereits erfahren, wie mühsam das ist. Es ist nichts Kleines, sich dem Frieden Christi zur Verfügung zu stellen. Die Bitte um Verwandlung durch den Frieden Christi, damit wir ein Zeichen des Friedens in der Kirche und der Welt sind, betrifft alles an uns. Das ist schon in einem Leben ohne Internet eine Provokation für uns selbst, für die Welt und die Kirche. Vertrauen in einer Welt voller Verdächtigungen ist eine Provokation. Wahrhaftigkeit in einer Welt voller Heuchelei ist eine Provokation. Transparenz in einer Welt voller Heimlichkeiten ist eine Provokation. Glauben in einer Welt voller Ablehnung ist eine Provokation. Die Sehnsucht nach Frieden ist eine beständige Provokation angesichts der Friedlosigkeit in der Welt und auch angesichts der eigenen Friedlosigkeit. Mit unserer Bitte trifft sie täglich auf den Anspruch, sich dem Frieden Christi zu öffnen, damit er Raum gewinnt. In einer Welt, in der unser Denken und Handeln auch in digitalen Räumen geschieht, werden diese Provokationen für uns, für die Kirche und die Welt vielleicht sogar größer, weil der Raum weiter geworden ist, in dem wir uns bewegen und in dem Wahrhaftigkeit, Vertrauen und Glauben lebenswichtig sind. Aber die Verheißung in dieser größer gewordenen Welt ist die gleiche, weil die digitale Welt ein Teil der Welt ist, in der Christus sein Reich errichtet.
„In diesen Frieden hinein hat uns der auferstandene Christus geholt, das ist bereits die Realität unseres Lebens, und wir eilen auf ihre Erfüllung zu. Denn wo Christus ist, da ist auch Sein Friede. Diese Gegenwart Christi gilt es, zeichenhaft zu leben in der Kirche und in der Welt, für die Kirche und für die Welt.“
Schwester Katharina Wiefel-Jenner